Ein Mann kehrt heim...
Heimatkalender für das Pirmasenser und Zweibrücker Land 1975 - VON HEINZ A. ECKERT
Mit dem Wiederaufschwung der Wirtschaft in den Nachkriegsjahren verblaßte auch die Erinnerung an die Nöte und Sorgen der Vergangenheit und damit auch die Tatsache, daß sich bei den ehemaligen Siegermächten immer noch deutsche Kriegsgefangene im Gewahrsam befanden, die gewissermaßen als sichtbares Faustpfand eines trügerischen Sieges angesehen wurden. Doch Jahr um Jahr setzte sich auch hier der Geist des Verständnisses durch. Man erkannte die Notwendigkeit eines friedlichen Nebeneinanderlebens der Völker und das Häuflein derer, die immer noch fern der Heimat auf ihre Freiheit warteten, wurde immer kleiner. Im Jahre 1956 schmolz auch die Zahl der Gefangenen im alten Benediktinerkloster von Looslez-Lille, von wo aus einst Bernhard von Clairvaux seine flammenden Aufrufe zur Befreiung des H. Grabes erlassen hatte, immer mehr zusammen.
Wir waren in dem alten Kloster gut untergebracht; außer der wirklichen Freiheit fehlte es uns an nichts. Zu dem Wachpersonal, das den Sinn unserer fortwährenden Gefangenschaft ebensowenig wie wir selbst begreifen konnte, hatten wir mit den Jahren ein freundschaftliches Verhältnis gefunden: So war die Zahl derer, die hier noch im. „Wartesaal zur Freiheit" auf ihre Heimkehr warteten, auf 28 Mann gesunken. Mit Pedanterie, aber auch mit automatischer Sicherheit konnte man damit rechnen, daß auch dem Letzten aus dieser Schicksalsgemeinschaft bald die Glocke zur Freiheit schlagen würde. Am 31. August 1956 war es dann soweit. In den Morgenstunden wurde ich von einem freundlichen Unteroffizier zum Kommandanten gerufen, der mir die Hand schüttelte und erklärte: „Sie sind frei, Sie dürfen sofort in die Heimat zurückkehren." Ein mir befreundeter Adjutant-Major sorgte dafür, daß meine Frau sofort telegraphisch von meinem Eintreffen in Kehl benachrichtigt wurde.
Zu hart waren jedoch die zurückliegenden Jahre der Entbehrungen und der Bedrängnis gewesen, als daß jetzt bei mir schon eine richtige Freude in meinem Innern hätte aufkommen können. Mechanisch ließ ich die rituellen Formalitäten meiner Entlassung über mich ergehen. Heute war ich noch ein stellvertretendes Faustpfand für den verlorenen Krieg unseres Volkes und morgen sollte ich schon ein freier Mann sein ... Plötzlich jedoch kam es über mich. Ich war frei, konnte mich wieder als Mensch unter Menschen bewegen und war auf dem Wege zurück in die Heimat, in das kleine stille Dorf am Schwarzbach, mitten in einem Land von .ewig grünen Bergen und Wäldern, wo meine Frau seit 10 Jahren in unerschütterlicher Treue auf mich wartete ... Langsam kam in mir ein immer stärker werdendes Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit auf und zugleich auch die Genugtuung, daß all diese Jahre der Unfreiheit einen Sinn gehabt hatten. Ich hatte aber die Unfreiheit dem Verrat an meiner Heimat vorgezogen, um schließlich dank der unerschütterlichen Treue und des fortwährenden Beistandes meiner Frau moralisch unbelastet und mit gutem Gewissen den wirklichen Weg in die Freiheit antreten zu dürfen. Wie froh war ich jetzt, daß ich nicht wie manche meiner früheren Kameraden den gleisenden Versprechungen unserer ehemaligen. Gegner erlegen und zu ihnen übergelaufen war. Ich erinnere mich noch genau der Worte eines hohen Offiziers, der meine Frau ersucht hatte, mich zu „bearbeiten", um für die Trikolore weiterzukämpfen. „Sagen Sie Ihrem Mann, er solle so, wie er während des Krieges gegen uns gearbeitet hat, nunmehr mit uns zusammenarbeiten und er wird sofort, frei". Ohne zu überlegen antwortete meine Frau schlicht und einfach: „Wenn es noch 20 Jahre dauern sollte, bis mein Mann nach Hause darf, dann werde ich eben auf ihn warten-. Und wenn er dann heimkommt und wir nichts mehr haben, dann werden wir eben für die Bauern Mist aufs Feld fahren, aber unsere Heimat verraten wir nicht". Diese Worte hatten den hohen Herrn sehr beeindruckt, er unterließ fortan weitere Bemühungen, uns irgendwie umzustimmen. Allerdings tat er auch nichts mehr, um meine Entlassung zu fördern, ich wurde gewissermaßen „auf Eis" gelegt.
Schließlich hatte sich unser Warten doch gelohnt, am 31. August 1956 bestieg ich im Hauptbahnhof Lille, in einem amerikanischen Trenchcoat gekleidet, mit einem US-Seesack den Nachtexpress Calais-Straßburg-Kehl. Im Zug traf ich einige amerikanische Soldaten, die wie ich ebenfalls den US-Trenchcoat trugen und ihren Seesack bei sich hatten. Die beiden Herren der „Sürete Nationale", die mich als meine „Schatten" bis nach Kehl zu begleiten hatten, begingen jedoch den Fehler, mich zu den Amerikanern zu zählen. Während der Reise wurden sie immer aufgeregter und suchten mich in allen Abteilen des Zuges, ohne mich zu erkennen. Mir fiel wohl das nervöse Gebaren der Geheimdienstleute auf, ich hatte jedoch von niemand Anweisungen erhalten, mich ihnen unterwegs zu erkennen zu geben.
Beim Einrollen des Zuges in den Grenzbahnhof Kehl war die Hölle los. Ich hatte sofort meine Frau erkannt, die 10 rote Rosen — als Sinnbild -für die 10 langen Jahre meiner Unfreiheit — in Händen hielt und nicht wußte, was sich hier abspielte. Die französische Geheimpolizei :'hatte den Bahnsteig hermetisch abgeriegelt und begann, jeden Waggon nochmals nach mir zu durchsuchen. Nach dem französischen Sprichwort: „Cela ne sont pas les oeufs de mes poules" (das sind nicht die Eier meiner Hühner) mischte ich mich nicht ein, warf meinen Seesack auf den Bahnsteig, sprang mit einem Satz nach und warf mich glücklich in die Arme meiner Frau, wobei wir uns der Tränen des Glücks nicht schämten. Hilfsbereite Bahnbeamte brachten mein Gepäck und uns gleich weg, ich meldete mich bei der deutschen Grenzpolizei in die Heimat zurück. Der Kripobeamte stutzte einen Augenblick, dann erkannten wir uns wieder, denn bis vor 4 Monaten hatten wir noch beide in der stillen alten Abtei in Loos-lez-Lille gesessen. Erst vor einigen Wochen hatte er seinen Dienst bei der Grenzpolizei wieder aufgenommen. Vön ihm erfuhr ich, daß der ganze Wirbel um den einlaufenden Zug mir gegolten hatte. Die „Sürete". hatte angenommen, ich sei nicht aus Frankreich ausgereist, weshalb man eine Großfahndung nach mir veranlaßt habe. Dem Rat eines Kameraden folgend begab ich mich sofort in das Büro der französischen Geheimpolizei im Bahnhof Kehl und klärte die beiden nervös gewordenen Herren über ihren Irrtum auf. Sie waren sichtbar erleichtert und bliesen sofort ihre Fahndung ab. Wir unterhielten uns noch eine Zeitlang in freundschaftlicher Weise und bald hatten meine Frau und ich diese letzten Aufregungen auf dem Weg in die Freiheit vergessen. Am nächsten Vormittag wurde ich ordnungsgemäß aus dem Kriegsgefangenenlager entlassen, wobei mich der erste Willkommensgruß der Bundesregierung, der mir zuteil wurde, tief beeindruckte. Ich war also in der Heimat willkommen und diese Empfangsgeste gab mir die Gewißheit, wieder ein freier Bürger unseres Landes zu sein. Meine Frau und ich machte uns dann ohne weitere Verzögerung . auf die Fahrt nach unserer schönen Pfalz. Nach einem Bummel durch Karlsruhe fragten wir nach dem Zuge in die Pfalz. Der. freundliche Bahnbeamte lächelte und meinte: „Den können Sie gar nicht verfehlen. In dem Zug, in dem sich die Leute am lautesten unterhalten, sitzen die Pfälzer". Der Mann hatte Recht, es war unmöglich, den Zug, der uns bei untergehender Abendsonne in die Heimat bringen sollte, zu verfehlen. Wortlos sah ich aus dem Fenster. Die Silhouette der Pfälzer Berge mit ihren reifenden Reben schob sich näher, ich schämte mich nicht der Tränen, die unwillkürlich über meine Wangen rollten. Während der Fahrt von Landau über Godramstein gegen Annweiler mit seinem markanten Trifels wurde mir immer wärmer und freier ums Herz. Ich hielt wortlos die Hände meiner lieben Frau, weil ich immer noch fürchtete, daß dies alles nur ein schöner Traum sei, von dem ich plötzlich jäh erwachen würde. Und doch war es eine wunderbare Wahrheit. Gegen 21.00 Uhr, nach Einbruch der Dunkelheit, passierten wir die Sperre am Bahnhof unseres Schwarzbachdörfchens, still und unerkannt kamen wir zu Hause an. Schon am nächsten Morgen fing ich an, mich an das neue Leben zu gewöhnen, wenn ich durch die Straßen unseres Heimatdorfes ging. Die Hilfe der örtlichen und naheliegenden Behörden und das große Entgegenkommen, das ich überall fand, gaben mir bald die Möglichkeit, die Zeit der Entbehrungen und der Not, die hinter mir lag, zu vergessen. Die Landesregierung Rheinland-Pfalz hatte uns seit ihrem Bestehen in rührender Weise betreut und ich habe auch heute noch den Willkommensgruß unseres damaligen Ministerpräsidenten Dr. Altmeier in Erinnerung, der mir durch seinen Beauftragten einen Korb mit edlen Weinen überbringen ließ.
Durch die aufopfernde Fürsorge meiner Frau und die verständnisvolle Betreuung der Gesundheitsbehörden war es mir schon nach wenigen Monaten möglich, meinen früheren Beruf aufzunehmen, der mich bald wieder als freier Mensch in fremde Länder führte. Doch immer wieder war ich froh, wenn ich so schnell wie möglich in unser stilles Dörfchen zurückkehren konnte, denn seit den langen Jahren des Fernseins von unserem schönen Pfälzerland ist mir die Bedeutung des Spruchs: „Wer die Fremde kennt, lernt die Heimat lieben" zu einem immerwährenden Leitspruch geworden. Viele Jahre sind seitdem vergangen und_ die Menschen aller Nationen haben damit begonnen, sich besser zu verstehen. Möge der Geist dieses Verstehens beitragen, den Frieden zu erhalten, damit unsere Kinder und Kindeskinder einer glücklicheren Zukunft entgegengehen können.